FASHION, BEAUTY AND CULTURE ON KITTENHEELS
READING

Soon to be told

Soon to be told

Die Matrix als alternatives Narrativ zur Realität beschäftigt Kreative seit jeher. So auch die Modedesigner*innen, die mit ihren weitsichtigen Entwürfen für das unfreiwillig surreale 2020 von fiktionalen Welten erzählen.

Die menschliche Evolution mit all ihren Innovationen und Abgründen bot schon immer ausreichend Erzählstoff für futuristische Entwürfe. Vor allem die Geschwindigkeit unserer modernen Welt offeriert reichlich Interpretationsspielraum für exemplarische Blaupausen, die sich allesamt die Frage stellen: Wie werden und wollen wir leben? Literarisch betrachtet ist Science-Fiction eine erzählerische Brücke, die es uns ermöglicht, Szenarien zu erfahren, die außerhalb der eigenen Vorstellungskraft liegen. Denn wie es schon im Film Matrix heißt: „Dummerweise kann man niemandem erklären, was die Matrix ist. Du musst sie selbst erleben.“ Mithilfe popkultureller Werkzeuge werden uns hier mögliche Welten als Testlauf präsentiert, um die ungewisse Zukunft weniger abstrakt und ein Stück weit begreifbarer zu machen. Utopie und Dystopie fungieren dabei als trojanisches Pferd, um den Status quo zu hinterfragen. Dabei geht es nicht unbedingt um Plausibilität, sondern um Haltung und Wertesysteme, die der Schaffende in der dargestellten Welt einer „nicht allzu weiten Zukunft“, präsentiert – alles unter dem Deckmantel der Fiktion.

Pompeji – eine Parabel zur Wirklichkeit

Dem brennenden Inferno entkommen: Looks von Palomo Spain – Spring/Summer 2020

Phoenix aus der Asche beschreibt die Welt, in welche das spanische Menswear-Label Palomo Spain bereits im Frühling seine Entwürfe schickte. Das Narrativ für Spring/Summer 2020 knüpfte an den Vulkanausbruch in Pompeji an: „Eine neue Zivilisation an Männern steigt empor. Sie stellen sich ihrer Zukunft, die hässlich ist: aus Plastik, verschmutzt, sabotiert, aber auch voll Rave, Sex und allem was dazu gehört.“ Die aus fließenden Grenzen bestehende Dualität spiegelt sich in ebenso fließenden Entwürfen mit kontrastierenden Lederelementen wider – eine Art zarte Roughness, die den Archetyp des Kriegers in eine neue Mehrdimensionalität rückt. Übertragen wir das Ganze auf die Wirklichkeit, wird die Parabel zu einem gesellschaftskritischen Statement. Wir hinterlassen unauslöschbare Fußspuren auf dem Planeten, die höchst bedenkliche Folgen für das Leben mit sich bringen. Als Kompensation flüchten wir vor der Realität. Schon befinden wir uns inmitten einer aktuellen Debatte, die hier mit dem Überleben einer Naturkatastrophe als möglicher Befreiungsschlag gelesen werden kann.

Anpassungsfähige und nachhaltige Entwürfe

Anpassung und Kreativität als Lebensretter: Looks von Marine Serre – Fall/Winter 2020

Die französische Modeschöpferin Marine Serre, deren fiktionale Designsprache sich schon von der ersten Kollektion an auf Themen aus dem Hier und Jetzt begründet hat, präsentiert mit Mind Melange Motor für den Winter ein weiteres dystopisches Szenario. Ihre Vision nimmt uns mit in eine fremde Welt, auf der sich Protagonisten verschiedener Tribes ein neues Leben aufbauen müssen. Sie trotzen Temperatur und unwegsamen Bedingungen, um sich selbstbewusst wie nie zu neuen Clans zu formatieren. Über Gender und Zugehörigkeitsgrenzen hinweg eine Einheit bildend. Protektion und Nützlichkeit stehen bei den Entwürfen im Vordergrund genauso wie Nachhaltigkeit und Upcycling. Denn in dieser Zukunft zwischen Fear of Dead und Love of Life ist Anpassungsfähigkeit und Kreativität überlebenswichtig. Eine mechanische Stimme führt von tranceartiger Musik unterlegt durch die Welten der miteinander verbundenen, lebenserhaltenden Planeten. Auch hier begegnen uns bekannte Elemente, die Bezug zur globalen Pandemie nehmen. Über allem steht der charakteristische Halbmond, welcher sich optimal in den fiktionalen Erzählstrang fügt. Er kann entweder auf oder untergehen – es besteht also Hoffnung.

Futuristische Designsprache und Referenzen

Bereit für den Abflug mit unbestimmtem Ziel: Looks von Sacai – Fall/Winter 2020

Auch Sacai greift für die kalte Jahreszeit nach den Sternen und bringt mit dem in Kooperation mit der NASA entstandenem Universum-Print die gesamte Galaxie auf den Laufsteg. Ansonsten besticht die Kollektion eher mit zurückhaltenden Farben und mehr mit der Kombination verschiedener Materialien und Stile. Die Inszenierung bezieht sich im Intro explizit auf den Sci-Fi-Film Gattaca mit dem Zitat von Uma Thurman: „I wan’t to show you something“. In diesem Fall eine Welt voll elegant anmutender hybrider Entwürfe. Eine futuristische Designsprache ist für die japanische Kreative hinter dem Label, Chitose Abe, nichts Neues. Bei genauerem Hinsehen lassen sich in einzelnen Looks Referenzen auf weitere cineastische Werke finden. Die starken Schwarz-Weiß-Kontraste erinnern an die Uniform der Stormtrooper aus Star Wars und die Head-to-Toe-Lederoutfits in all black werfen Fragen nach der roten und blauen Pille auf. Trotzdem geht es in diesem Narrativ ruhiger zu. Es gibt keine offensichtlichen Gefahren, nur die leicht dystopische Stimmung, welche uns mit Jet-Geräuschen bereit für den Abflug macht – Richtung Mond oder gleich in eine andere Galaxie?

Uns alle beschäftigt die Krise in der Gegenwart und besonders die Zukunft. Was wird in ein paar Jahren sein und wird es die Realität, so wie wir sie kannten, weiterhin geben? Das Corona-Kapitel ist lange noch nicht zu Ende erzählt, hat jedem Einzelnen Stoff zum Nachdenken gegeben und einige Dinge für immer verändert. Es bleibt abzuwarten, welche Entwicklungen die Zukunft noch bringt. So lange üben wir uns in den Weiten der Fiktion und Imagination, um das Unbändige zu fassen und die Dissonanz zwischen Erleben und Verstehen ausgleichen zu können. Denn als sich die Macher von Blade Runner das 21. Jahrhundert vorstellten, präsentierten sie die Realität düster, digital und futuristisch. In gewisser Hinsicht sind wir 2020 meilenweit davon entfernt. Doch einiges ist nicht mehr ganz so undenkbar, wie noch vor vierzig Jahren. Denn das Narrativ des Jetzt bleibt: to be continued…

© Header und Collagen: Fatima Njoya & Johanna Busch, Text: Fatima Njoya


RELATED POST

INSTAGRAM
FASHION, BEAUTY AND CULTURE ON KITTENHEELS